Oktopusse oder Kraken, Sepien und Kalmare gehören zu den sogenannten Kopffüßern oder Cephalopoden, einer faszinierenden und andersartigen Tiergruppe. Ihre beweglichen Arme tragen Saugnäpfe und sie haben die Fähigkeit, sich durch Änderung ihrer Farbe an ihre Umgebung anzupassen. Diese Eigenschaften sowie ihr komplexes Nervensystem sind einzigartig im Tierreich. Seit langer Zeit studieren Wissenschafter*innen die Evolution dieser faszinierenden Tiere. Eine große Herausforderung, um zu verstehen, was hinter dieser morphologischen Komplexität steckt, war die Entschlüsselung der Genome der Kopffüßer. Das Genom von Kopffüßern ist auffällig groß, größer als die Genome ihrer Verwandten, der Mollusken, und ähnlich der Größe des menschlichen Genoms. Neue genetische Werkzeuge erlauben es, das gesamte Erbgut (Genom) von Cephalopoden unter die Lupe zu nehmen.
In den beiden Studien wurden die Genome des kalifornischen Oktopus (Octopus bimaculoides), des hawaiianischen Zwergtintenfischs (Euprymna scolopes) und des Langflossen Küstentintenfischs, auch Bostoner Markt-Tintenfisch genannt (Doryteuthis pealeii) herangezogen, dabei kamen mehrere neue Werkzeuge zum Einsatz, um die Organisation und Funktion des Genoms zu untersuchen.
Chromosomen von Oktopussen und anderen Tintenfischen unterscheiden sich stark von denen jeder anderen Tiergruppe
In der ersten Veröffentlichung (Albertin et al.) hat das wissenschaftliche Team der Universität Wien als Teil eines internationalen Teams unter anderem mit dem Marine Biological Laboratory der University of Chicago die Zusammensetzung der Chromosomen von Kopffüßern untersucht und herausgefunden, dass sich die Chromosomen von Oktopussen und Tintenfischen stark von denen jeder anderen Tiergruppe unterscheiden. Tierische Chromosomen sind einander sehr ähnlich, auch wenn die Tiergruppen evolutionär weit voneinander entfernt sind, wie die Wissenschafter*innen in einer früheren Studie zeigen konnten. Kopffüßer hingegen haben einen Weg gefunden, sich von diesem Muster zu lösen und völlig neue Kombinationen zu bilden. Dadurch ist ein ganz besonderer Karyotyp entstanden: Ihre Chromosomen sehen aus wie ein Mosaik aus den Bausteinen, die ansonsten bei anderen Tiergruppen gut erhalten geblieben sind.
„Neue Nachbarn“ im Genom bringen andere Wechselwirkungen mit sich
In der zweiten Veröffentlichung (Schmidbaur et al.) untersuchten die Wissenschafter*innen der Universität Wien ebenfalls in einem internationalen Team etwa unter Beteiligung des Research Institute of Molecular Pathology (IMP), des Tiergarten Schönbrunn in Wien, und des Marine Biological Laboratory der University of Chicago den Beitrag dieser Genomumstrukturierung zu den vielen bekannten morphologischen Neuerungen bei Kopffüßern. Die Studie konzentrierte sich auf genomische Regionen, die aus drei oder mehr Genen bestehen, die in dieser Kombination nur bei Kopffüßern zusammen vorkommen. Die Wissenschafter*innen haben herausgefunden, dass solche neuartigen Kombinationen an Genen, quasi neue Nachbarn, oft andere Wechselwirkungen miteinander haben als andere Teile des Genoms und an vielen der neuartigen Cephalopoden-Geweben, wie dem komplexen Nervensystem, beteiligt sind.
Beiden Studien zusammen zeigen schließlich eine sehr einzigartige genomische Organisation von Kopffüßern, die viele neue Forschungswege eröffnet. „Durch unsere Forschung ist jetzt deutlich geworden, dass wir, um die Biologie der Kopffüßer zu verstehen, zuerst die genetischen Bausteine dieser Tiere verstehen müssen – und solche Bausteine scheinen sich radikal und oftmals von dem zu unterscheiden, was wir von anderen Tieren kennen“, so Schmidbaur von der Ecology and Evolution Doctoral school (VDSEE) der Universität Wien.
Originalpublikationen:
Caroline B. Albertin, Sofia Medina-Ruiz, Therese Mitros, Hannah Schmidbaur et al (2022). Genome and Transcriptome Mechanisms Driving Cephalopod Evolution. Nature Communications
DOI: 10.1038/s41467-022-29748-w.
Hannah Schmidbaur et al. (2022) Emergence of Novel Cephalopod Gene Regulation and Expression through Large-Scale Genome Reorganization. Nature Communications
DOI: 10.1038/s41467-022-29694-7