Bei der Fortpflanzung setzt der Meeresborstenwurm Platynereis dumerilii seine Eier und Spermien ungeschützt in das offene Meer frei. Das richtige Timing ihrer Fortpflanzungszyklen ist daher entscheidend für das Überleben der Würmer. Bisher war bekannt, dass Borstenwürmer ihre Fortpflanzung auf wenige Tage im Monat abstimmen. Jetzt haben die Forschenden herausgefunden, dass die Würmer sich auch in bestimmten Stunden in der Nacht vermehren. „Wir können zeigen, dass das Mondlicht kontrolliert, wann genau in der Nacht die Würmer ihr Fortpflanzungsverhalten beginnen, nämlich immer in der dunkelsten Phase“, erklärt Erstautor Martin Zurl. Das Mondlicht fungiert dabei nicht als der direkte Auslöser des Paarungsverhaltens, sondern verändert die Periodenlänge der zirkadianen Uhr. In der Natur ändert sich der Zeitpunkt des Mondlichts im Schnitt täglich um etwa 50 Minuten. Die Plastizität ihrer Uhr ermöglicht es den Würmern, diese Veränderungen einzuberechnen.
In einer Kooperation mit den Laboren von Robert Lucas an der University of Manchester (UK) und Eva Wolf am Institut für Molekularbiologie Mainz (IMB, Deutschland), konnten die Forschenden die an diesem Prozess beteiligten Lichtrezeptoren charakterisieren. Sie entdeckten, dass die kombinierte Wirkung eines Opsins – verwandt mit dem zirkadianen Photorezeptor Melanopsin der Säuger – und eines sogenannten Chryptochroms Mond- und Sonnenlicht dekodieren kann, um die plastische innere Uhr korrekt einzustellen. In Zusammenarbeit mit dem Labor von Charlotte Helfrich-Förster an der Universität Würzburg (Deutschland) konnten das Team außerdem zeigen, dass die korrekte Dekodierung von Mondlicht auch für die zirkadiane Uhr anderer Tierarten relevant ist.
Der Einfluss der Lichtintensität auf die Periodenlänge der zirkadianen Uhr ist für verschiedene Organismen unter künstlichen Laborbedingungen seit Jahrzehnten dokumentiert. Die physiologische Bedeutung dieser Schwankungen war jedoch bisher unklar. „Unsere Arbeit zeigt, dass hinter der Beobachtung, dass die zirkadiane Uhr eines Individuums unterschiedlich schnell laufen kann, eine ökologische Bedeutung steckt“, erklärt Kristin Tessmar-Raible. Bemerkenswert ist, dass auch der Mensch eine solche zirkadiane Plastizität aufweist. So zeigen Patient*innen mit bipolarer Störung rätselhafte circalunidiane (d.h. 24,8h) Perioden, die mit ihren Stimmungsschwankungen korrelieren. Die Wissenschafter*innen hoffen, dass ihre Arbeit dazu beitragen wird, den Ursprung und die Folgen der biologischen zeitlichen Plastizität sowie ihr Zusammenspiel mit natürlichen Zeitgebern zu verstehen.
Originalpublikation:
Martin Zurl, Birgit Poehn, Dirk Rieger, Shruthi Krishnan, Dunja Rokvic, Vinoth Babu Veedin Rajan, Elliot Gerrard, Matthias Schlichting, Lukas Orel, Aida Ćorić, Robert J. Lucas, Eva Wolf, Charlotte Helfrich-Förster, Florian Raible,and Kristin Tessmar-Raible: Two light sensors decode moonlight versus sun-light to adjust a plastic circadian/circalunidian clock to moon phase. Pro-ceedings of the National Academy of Sciences 2022