Das Team widerlegte mit seiner Arbeit endgültig eine Annahme, die intuitiv betrachtet naheliegt: Damit sich zwei Materieteilchen zu größeren Einheiten zusammenschließen können, zu so genannten Aggregaten oder Clustern, müssten sie einander anziehen. Schon um die Jahrtausendwende hatte ein Team von Forscher*innen auf dem Gebiet der Physik weicher Materie um den Physiker Christos Likos von der Universität Wien mithilfe theoretischer Überlegungen vorhergesagt, dass dies nicht zwingend der Fall sein muss: Auch rein abstoßende Teilchen könnten demnach Cluster bilden, sofern sie sich vollständig überlappen können und ihre Abstoßung bestimmte mathematische Bedingungen erfüllt.
Seitdem haben weitere theoretische und rechnerische Arbeiten ergeben, dass sich solche Cluster kristallin anordnen, wenn sie unter Druck verdichtet werden, ähnlich wie herkömmliche Materialien, etwa Kupfer oder Aluminium. Kristalline Ordnung bedeutet vereinfacht, dass es eine gitterförmige Struktur gibt, in der allen Teilchen feste Plätze zugewiesen sind. Anders als bei Metallen sind die Teilchen, die die Clusterkristalle bilden, jedoch hochmobil und springen ständig von einem Gitterplatz zum nächsten. Dies verleiht diesen Festkörpern Eigenschaften, die an Flüssigkeiten erinnern. So ist jedes Teilchen irgendwann einmal an jedem Gitterplatz anzutreffen.
Teilchen erinnern im Aufbau an Pompons
Teilchen herzustellen, die die notwendigen Eigenschaften für den Nachweis von Clusterkristallen besitzen, erwies sich als schwierig. Emmanuel Stiakakis vom Forschungszentrum Jülich und seinen Kollegen gelang dieser Nachweis nun, in enger Zusammenarbeit mit den Theoretiker*innen aus Wien und Polymerchemikern aus Siegen. Die Forscher*innen stellten hybride Partikel her, die ähnlich aufgebaut sind wie Pompons. Ihr Kern besteht aus organischen Polymeren, an welchen DNA-Moleküle befestigt sind, die wie die Fäden eines Wollbommels ausgehend vom Kern in alle Richtungen abstehen. Durch diesen Aufbau lassen sich die Moleküle weit ineinanderschieben und damit ausreichend komprimieren. Gleichzeitig sorgt eine Kombination aus einer elektrostatischen Abstoßung der von Natur aus geladenen DNA-Komponenten und aus einer schwachen Wechselwirkung der Polymere im Zentrum der Konstrukte für die notwendige Gesamtwechselwirkung.
„DNA ist besonders gut für unsere Zwecke geeignet, weil sie sich aufgrund der Watson-Crick-Basenpaarung vergleichsweise einfach in die gewünschte Form und Länge bringen lässt. In Kombination mit den Polymerkernen lassen sich Form und Abstoßung der Hybride fein tunen und relativ schnell unterschiedliche Varianten herstellen“, erläutert Stiakakis, der am Jülicher Institut für Biologische Informationsprozesse forscht. Der studierte Physiker mit Promotion auf dem Gebiet der physikalischen Chemie nutzt diese Helixmoleküle schon länger, um Aspekte der Selbstorganisation weicher Materie zu untersuchen.
„Als Ergebnis langer Bemühungen und einer Vielzahl experimenteller Methoden, einschließlich biochemischer Synthese und Charakterisierung, sowie Röntgen- und Lichtstreuung, konnten wir nun eine mehr als 20-jährige Suche nach Clusterkristallen erfolgreich zum Abschluss bringen“, freut sich Likos. Der Theoretische Physiker an der Fakultät für Physik der Universität Wien erwartet darauf aufbauend die Entdeckung weiterer komplexer Materiezustände, die durch die neuen makromolekularen Aggregate gebildet werden.
Originalpublikation:
E. Stiakakis et al.; Self assembling cluster crystals from DNA based dendritic nanostructures; Nat. comm. 9 December 2021