Massive globale Zunahmen der IQ-Testleistung in der Allgemeinbevölkerung haben in den letzten Jahrzehnten hohes Forschungsinteresse ausgelöst. Dieser „Flynn Effekt“ zeigte sich über den größten Teil des 20. Jahrhunderts und wird hauptsächlich auf perinatal verbesserte Ernährung, längere und bessere Bildung, medizinische Versorgung und sogenannte soziale Multiplikatoren (d.h. beiläufiges Training kognitiver Fähigkeiten durch Verstärkung durch die Umwelt) zurückgeführt. Längsschnittliche Synthesen einer Vielzahl von Primärstudienergebnissen deuteten allerdings bereits 2015 auf eine globale Verlangsamung und möglicherweise bevorstehende Stagnation des Flynn Effekts hin.
Der Anti-Flynn Effekt
Tatsächlich mehrte sich in Studien die Evidenz für eine Umkehr des Flynn Effekts zumindest im europäischen Raum: Ergebnisse aus einer Vielzahl von Ländern, die ursprünglich durch Zunahmen charakterisiert waren (Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Niederlande, Norwegen, Österreich, UK), zeigen nun Abnahmen in der durchschnittlichen Bevölkerungstestleistung. Als mögliche Ursachen für diesen Anti-Flynn Effekt wurden mitunter systematische Migrationseffekte (d.h. Migration von Ländern mit niedrigerem in Länder mit höherem durchschnittlichen IQ) oder Fertilitätseffekte vermutet.
Ursachen für Testleistungsabnahmen
Jakob Pietschnig, Martin Voracek und Georg Gittler von der Universität Wien haben diese Theorien nun erstmals in zwei unabhängigen Studien empirisch getestet. In einer ersten meta-analytischen Studie untersuchten die Forscher Einflüsse auf Stagnation und Umkehr des Flynn Effekts in Österreich anhand von den Ergebnissen mehrerer tausend Testpersonen auf Raumvorstellungstests. Es zeigte sich, dass die Testergebnisse weder in linearer, noch in kurvilinearer Beziehung zu Netto-Migration, absoluter Migration oder AsylwerberInnenzahl stehen. Weiters ließen sich keine Einflüsse von Fertilitätsraten der letzten 40 Jahre auf die Bevölkerungstestleistung nachweisen. In einer Nachfolgestudie haben die Wissenschafter IQ-Testleistungsveränderungen in 21 Ländern an mehreren hunderttausend Testpersonen über einen Zeitraum von über 50 Jahren untersucht, in der sich die Befunde zu Fertilität bestätigen ließen.
Fähigkeitsspezialisierung statt Migrationseinflüsse
„Insgesamt zeigen sich die beobachteten Ergebnisse konsistent mit Befunden, die darauf hindeuten, dass migrationsbedingte Änderungen nationaler Bevölkerungstestleistungen bestenfalls kurzlebig sind“, sagt Jakob Pietschnig, denn: „Ergänzende Untersuchungen haben gezeigt, dass auch in den weiteren hier untersuchten Ländern Migrationszahlen keinen Einfluss auf Testleistungsänderungen hatten“. Die Ursachen des Anti-Flynn Effekts dürften nach der Ansicht der Forscher auf den differenzierten Zusammenhängen mit spezifischen und allgemeinen kognitiven Fähigkeiten beruhen. Das heißt, dass steigende Fähigkeitsspezialisierung zu Anstiegen der Bevölkerungsintelligenz geführt haben, während allgemeine kognitive Fähigkeiten in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend unverändert blieben. Wenn also die Leistung in spezifischen Fähigkeiten in der Bevölkerung ein Maximum erreicht, sollten sich in Folge Abnahmen der Bevölkerungstestleistung zeigen. Zusammenfassend lassen sich die nunmehr vielfach beobachteten IQ-Testleistungsabnahmen nicht auf Migrationsphänomene zurückführen, sondern dürften vielmehr einen Ausdruck der geänderten Anforderungen der Umwelt an unsere kognitiven Fähigkeiten darstellen.
Publikation in „Politische Psychologie“:
Pietschnig, J., Voracek, M., & Gittler, G. (2018). Is the Flynn effect related to migration? Meta-analytic evidence for correlates of stagnation and reversal of generational IQ test score changes. 2018, Vol. 6(2) 267-283.