Sprachen und Schriftsysteme sind zentrale Elemente menschlicher Kommunikation. Schriftsysteme ermöglichen uns seit Jahrtausenden, Information nicht nur von Angesicht zu Angesicht zu teilen, sondern auch in sprachlicher Form zu speichern und immer wieder abzurufen. „Das Lesen ist eine der faszinierendsten kulturellen Errungenschaften des Menschen“, sagt Benjamin Gagl, bis vor kurzem Postdoktorand am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien: „Die gesprochene Sprache beeinflusst auch das Lesen. Bis jetzt ist aber wenig über die gemeinsamen, zugrundeliegenden Mechanismen von Lesen und gesprochener Sprache bekannt.“
Rhythmik der Augenbewegungen während des Lesens
Gagl untersuchte ebendiese Mechanismen gemeinsam mit einem internationalen Team unter Leitung von Christian Fiebach von der Goethe-Universität Frankfurt am Main und verglich zeitliche Strukturen des Lesens mit denen der gesprochenen Sprache. Dabei zeigte sich, dass die rhythmischen Abläufe der Augenbewegungen beim Lesen und die dominante Rhythmik im Sprachsignal nahezu identisch sind. So konnten die Forscher*innen ein neues Licht auf die Schnittstelle zwischen geschriebener und gesprochener Sprache werfen.
Die Rhythmik in das Zentrum gerückt
Für die Studie übertrug das Forscher*innenteam Methoden der Frequenzanalyse, die in der Untersuchung des lautlichen Sprachsignals schon breite Verwendung finden, auf die Untersuchung von Augenbewegungen. Diese Vorgehensweise wurde in zwei Studien an der Goethe-Universität Frankfurt und einer Studie an der Universität Salzburg angewandt. Neben einer vergleichbaren Rhythmik von Lesen und Sprechen zeigte sich bei weniger erfahreneren Leser*innen eine direkte zeitliche Kopplung der Lese- und Sprachprozesse. Gute Leser*innen hingegen lasen schneller und konnten zwischen zwei Augenbewegungen mehr Information aus dem Text entnehmen. Zusätzlich erfassten die Autor*innen in einer Metastudie alle in Fachzeitschriften erschienenen Blickbewegungsstudien des Lesens aus den Jahren 2006 bis 2016 und schätzten für diese die zeitliche Rhythmik des Lesens für 14 Sprachen und mehrere Schriftsysteme. Die Forscher*innen fanden heraus, dass zeichenbasierte Schriftsysteme (wie etwa im Chinesischen) zu langsameren Leserhythmen führen, was mit den höheren Anforderungen an die visuelle Analyse der komplexeren Schriftzeichen erklärt werden kann.
Gemeinsame Mechanismen für die Verarbeitung von geschriebener und gesprochener Sprache
„Die Ergebnisse zeigen Zusammenhänge zwischen gesprochener und geschriebener Sprache auf eine neuartige und bisher noch nicht bekannte Art und Weise“, so Fiebach. „Die Sprachverarbeitungssysteme des menschlichen Gehirns haben sich im Verlauf der Evolution auf die zeitlichen Abläufe der gesprochenen Sprache spezialisiert. Wir gehen aufgrund der aktuellen Ergebnisse davon aus, dass diese Sprachsysteme beim Lesen als eine Art ‘Taktgeber’ für die Augen dienen, damit diese die gelesenen Informationen in einem optimalen zeitlichen Rhythmus an das Gehirn senden und so die weitere Analyse erleichtern. Diese Hypothese kann nun mit dem hier vorgestellten methodischen Ansatz vertieft untersucht werden.“
Publikation in Nature Human Behavior:
Gagl, B., Gregorova, K., Golch, J., Hawelka, S., Sassenhagen, J., Tavano, A., Poepple, D. & Fiebach, C. J. (accepted). Eye movements during text reading align with the rate of speech production. Nature Human Behavior.
DOI : 10.1038/s41562-021-01215-4