Bisher dachte man, die Neandertaler hätten sich vor einigen hunderttausend Jahren in Europa entwickelt und wären erst viel später – in den letzten 70.000 Jahren – in einige Gebiete in West- und Mittelasien eingewandert. Gerhard Weber, Cinzia Fornai und Viktoria Krenn von der Universität Wien und die Forscher*innen der Universität Tel Aviv und der Hebrew-Universität Jerusalem widersprechen mit ihren Entdeckungen der gängigen Lehrmeinung: Sie legen nahe, dass es schon sehr lange einen Populationsaustausch zwischen Europa und Asien gab. Die Entstehung der Neandertaler ist damit keineswegs auf Europa beschränkt. Dies erklärt auch, warum es schon sehr früh ein Eindringen von Genen moderner Menschen in das Neandertaler-Genom gab, obwohl sich diese Gruppen in Europa zu dieser Zeit gar nicht getroffen haben konnten.

Wie sich Neandertaler und moderne Menschen entwickelt haben, ist eine der spannendsten Fragen in der Evolutionsgeschichte. Schließlich waren Neandertaler uns modernen Menschen so ähnlich, dass eine Vermischung möglich war und jede*r von uns noch einige ihrer Gene in sich trägt. Als Population verschwanden sie dann vor rund 40.000 Jahren. Doch wie entstanden sie?

In Europa gab es gab Vorstufen wie etwa die Vertreter aus Atapuerca in Spanien, die auf 430.000 Jahre datiert sind. Zunächst nahmen die Wissenschafter*innen an, dass sich die Neandertaler im eiszeitlichen Europa mit seinen damals enormen Klimaschwankungen allmählich weiterentwickelten, bis schließlich der allseits bekannte „klassische Neandertaler“ ganz Europa und auch einige Gebiete in der Levante besiedelte. Einige der Neandertaler erreichten sogar Mittelsibirien.

Die neuen Funde zeigen nun, dass der Neandertaler keine rein europäische Entstehungsgeschichte hat und wohl auch schon sehr früh Vorläufer-Populationen in ganz Eurasien bestanden.

…ein fast komplettes rechtes und ein zerbrochenes linkes Scheitelbein, sowie einen sehr gut erhaltenen Unterkiefer mit Zähnen.(© Avi Levin and Ilan Theiler, Sackler Faculty of Medicine, Tel Aviv University)

Spezieller Menschentyp

„Als wir die Fossilien betrachteten, dachten wir zunächst, es wäre ein untypischer  Neandertaler, den wir da vor uns hatten“, so Gerhard Weber vom Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien. „Dann wendeten wir die Methoden der Virtuellen Anthropologie mit ihren sehr genauen Gestaltanalysen an, fügten immer mehr vorhandene Fossilien hinzu und sahen schnell, dass wir einen sehr speziellen Menschentyp vor uns hatten. Der Gehirnschädel stellte sich als recht archaisch heraus, aber mit Anklängen an Neandertaler. Er war einigen Fossilien ähnlich, die man aus Ostasien kennt, aber bislang nie richtig zuordnen konnte. Der Unterkiefer und die Zähne waren ebenso eine Mischung, aber etwas Neandertaler ähnlicher“, so Weber.

Bei Grabungen in acht Metern Tiefe fanden die Forscher*innen neben Tierknochen und Steinwerkzeugen ein fast komplettes rechtes und ein zerbrochenes linkes Scheitelbein, sowie einen sehr gut erhaltenen Unterkiefer mit Zähnen. Mit Hilfe modernster Datierungsmethoden konnte der Fund auf ein Alter zwischen 120.000 und 140.000 Jahren eingegrenzt werden.

Die Forscher*innen hatten hier entdeckt, was man schon lange suchte: Genetiker hatten festgestellt, dass es nicht nur Neandertaler-Gene in modernen Menschen gibt, sondern auch moderne Menschengene in Neandertalern, und zwar schon länger als 200.000 Jahre. Wenn sich die Vorläufer der klassischen Neandertaler nur in Europa aufgehalten hätten, wo es zu dieser Zeit keine modernen Menschen gab, woher kam dann dieser Genfluss? Nesher-Ramla ist der Schlüssel zu diesem Rätsel: Es gab in Israel zuvor schon Funde von Homininen, die einen Mix von archaischen und Neandertaler-Merkmalen aufwiesen. Manche waren rund 400.000 Jahre alt. Dennoch waren die Funde zu spärlich, um zu zeigen, dass diese Homininen über sehr lange Zeit in der Levante ansässig waren. Die neuen Funde, die der Gruppe der „Nesher-Ramla Homininen“, erhärten diesen Verdacht.

Die Evolution der Neandertaler ist somit nicht mehr auf Europa einzugrenzen. Vielmehr standen Populationen in Europa und Asien in Verbindung und die Levante spielt eine entscheidende Rolle in diesem Geschehen. Noch ist unklar, ob diese Region sogar die Quelle der ersten Vorläufer von Neandertalern war. Immerhin gibt es ungefähr gleich alte ähnliche Funde in Spanien. Dennoch könnte die Vermischung mit den ersten modernen Menschen, die Afrika verlassen hatten, sehr wahrscheinlich in der Levante stattgefunden haben, wie das Team aus Österreich und Israel bereits 2018 festgestellt hat. Auch eine Wanderungsbewegung weiter nach Ostasien wird damit wahrscheinlich. Das würde die dortigen anatomischen Anklänge an die Neandertaler erklären.

Die Nesher-Ramla Funde werfen darüber hinaus ein neues Licht auf die Interpretation der bisher unerklärlichen Heterogenität von modernen Menschen in Israel um 100.000 Jahren vor heute. Diese Skhul und Qafzeh Gruppe ist vermutlich eine Mischung aus modernen Menschen und der eben entdeckten Nesher-Ramla Linie.

Publikation in „Science“:
A middle Pleistocene Homo from Nesher Ramla, Israel
I. Hershkovitz et al. 2021