Ökosysteme bestehen aus einer Vielzahl an Organismen, Pflanzen, Mikroorganismen und Tiere, die miteinander und mit der unbelebten Natur in komplexer Weise interagieren. Reaktionen von Ökosystemen auf den globalen Klimawandel vorherzusagen ist daher sehr schwierig – die meisten Erwärmungsexperimente, mit denen man die Effekte erhöhter Temperaturen auf Ökosysteme untersucht, bearbeiten aus diesem Grund nur die Effekte auf einen oder einige wenige Organismen, was aber die Interaktionen in Systemen nicht miteinschließt. Dazu laufen Erwärmungsexperimente normalerweise nur über relative kurze Zeiträume, etwa fünf bis maximal 15 Jahre, auch weil die derzeitigen Forschungsförderinstrumente Projekte über längere Zeiträume nicht unterstützen.
Die Reaktion von Ökosystemen auf längerfristige Erwärmung ist daher nicht präzise genug vorauszusagen. Nun hat ein internationales und interdisziplinäres Konsortium über viele Jahre Daten von mehr als 120 Organismen und Prozessen erhoben. Die ForscherInnen untersuchten, wie sich eine kurzfristige (5-8 Jahre), aber auch eine langfristige (mehr als 50 Jahre) Erwärmung auf das Ökosystem auswirkt. Die Studie nutzte dazu die natürliche Erwärmung von Böden durch geothermale Aktivität in Island, um so auch die Folgen jahrzehntelanger Erwärmung zu untersuchen – ein weltweit einzigartiges Experiment.
„Die Erwärmung über Jahrzehnte hat das Ökosystem aus dem bestehenden in ein neues Gleichgewicht gebracht: Verringerter Artenreichtum, geänderte Artenzusammensetzung, deutlich geringere Biomasse und drastisch weniger Kohlenstoffspeicherung im Boden waren die Folge“, sagt Andreas Richter vom Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemforschung der Universität Wien. „Das bedeutet, dass sich natürliche Ökosysteme mit langfristiger Erwärmung permanent verändern und sich eben nicht in einer Art und Weise an erhöhte Temperaturen anpassen, dass nach einer initialen Veränderung alles wieder ‚beim Alten‘ ist“.
Das Experiment machte auch starke Unterschiede zwischen kurzzeitiger und langfristiger Erwärmung deutlich. „Etwa drei Viertel der von uns untersuchten Prozesse zeigten eine deutlich andere Reaktion nach fünf bis acht Jahren Erwärmung als nach mehr als 50 Jahren. Würde man nur die kurzfristigen Messungen für Modellrechnungen heranziehen, schätzt man den Effekt der langfristigen Erwärmung falsch ein – und zwar im Schnitt um mehr als 100 Prozent“, erklärt Tom Walker, Senior Researcher an der ETH Zürich und früherer PostDoc am Department für Mikrobiologie und Ökosystemforschung der Universität Wien. Vor allem wäre auch nicht zu erkennen, dass sogar kleine Erwärmungen von nur 1 °C die Ökosysteme langfristig signifikant verändern.
Fazit der WissenschafterInnen: Langfristige Prognosen über den Effekt der Klimaerwärmung auf komplexe Ökosysteme sind aus kurzfristigen Experimenten nur schlecht ableitbar, mit all den negativen Konsequenzen, die das für die Gesellschaft hat. „Wir benötigen möglichst präzise Voraussagen über zukünftige Entwicklungen. Das bedeutet auch, dass wir dringend längere und integrative Ökosystem-Experimente brauchen, damit wir Erdsystemmodelle mit den notwendigen Daten füttern können“, so Andreas Richter. Er appelliert an die Forschungsförderungsorganisationen, auch langfristige, interdisziplinäre Forschungsvorhaben zu unterstützen. „Gesellschaftliche Anpassungsstrategien laufen nämlich ins Leere, wenn wir nicht voraussagen können, wie sich Klimaerwärmung auf unsere Natur auswirken wird“, schließt Richter.
Publikation in Nature Ecology & Evolution
A systemic overreaction to years versus decades of warming in a subarctic grassland ecosystem‘ has been scheduled for publication in Nature Ecology & Evolution; Tom W. N. Walker, Ivan A. Janssens, James T. Weedon, Bjarni D. Sigurdsson, Andreas Richter, Josep Peñuelas, Niki I. W. Leblans, Michael Bahn, Mireia Bartrons, Cindy De Jonge, Lucia Fuchslueger, Albert Gargallo-Garriga, Gunnhildur E. Gunnarsdóttir, Sara Marañón-Jiménez, Edda S. Oddsdóttir, Ivika Ostonen, Christopher Poeplau, Judith Prommer, Dajana Radujković, Jordi Sardans, Páll Sigurðsson, Jennifer L. Soong, Sara Vicca, Håkan Wallander, Krassimira Ilieva-Makulec, Erik Verbruggen; In: Nature Ecology & Evolution
DOI: 10.1038/s41559-019-1055-3