Reiner Kohlenstoff ist in vielen verschiedenen Formen zu finden, die bekanntesten sind Diamant und Graphit. Die einzigartigen strukturellen, elektrischen und optischen Eigenschaften dieser Materialien bieten eine breite Palette an Anwendungsmöglichkeiten, von Verbundstoffen bis zur Nanoelektronik. Einzig Carbin, die eindimensionale Form des Kohlenstoffs, konnte noch nie hergestellt werden: Aufgrund der hohen Instabilität bei normalen Bedingungen ist die Existenz von Carbin selbst nach über 100 Jahren nicht bewiesen. Ein internationales Team von PhysikerInnen unter der Leitung von Thomas Pichler von der Universität Wien hat nun einen Meilenstein auf dem Weg zur Herstellung von Carbin in makroskopischen Mengen erreicht: Eine neuartige Methode, bei der sie dünne, doppelwandige Kohlenstoffnanoröhren als Schutzmantel verwenden, machte es möglich, Ketten aus mehr als 6.000 Kohlenstoffatomen zu erzeugen – ein neuer Rekord.
Die hohe Bindungsfähigkeit des Kohlenstoffatoms ist nicht nur die Grundlage unzähliger chemischer Verbindungen, sie erlaubt es, selbst in Reinform viele sehr bekannte Strukturen herzustellen, allen voran Diamant und Graphit. Eine einzelne Schicht Graphit wiederum, besser bekannt als Graphen, kann in eine Kohlenstoffnanoröhre oder ein Fulleren gerollt bzw. gefaltet werden. Obwohl die Existenz von Carbin, einer quasi unendlich langen Kette aus Kohlenstoffatomen, schon im Jahr 1885 vom späteren Nobelpreisträger Adolf von Baeyer vorhergesagt wurde, war es bis heute nicht möglich, dieses Material zu erzeugen. Von Baeyers Schlussfolgerungen implizierten sogar, dass die Synthese von Carbin aufgrund seiner extremen Reaktionsfreudigkeit ein schier unmögliches Unterfangen darstellt. Nichtsdestotrotz konnten im Verlauf der letzten 50 Jahre immer längere Kohlenstoffketten hergestellt werden, wobei der Rekord aus dem Jahr 2003 bei etwa 100 Atomen lag. Thomas Pichler und sein Team konnten diesen Rekord nun brechen.
Die ForscherInnen der Universität Wien erarbeiteten eine neue Methode, mit der sie in der Lage sind, Kohlenstoffketten mit einer noch nie dagewesenen Länge von bis zu 6.000 Kohlenstoffatomen herzustellen, welche sich damit im Bereich von Mikrometern bewegt. Dafür benützten sie doppelwandige Kohlenstoffnanoröhren als Schutzschild und „Nano-Brutkasten“, um innerhalb ihrer Hohlräume Kohlenstoffketten in makroskopischem Ausmaß wachsen zu lassen. In Zusammenarbeit mit den Forschungsgruppen von Kazu Suenaga am AIST Tsukuba in Japan, Lukas Novotny an der ETH Zürich in Schweiz und Angel Rubio am MPI Hamburg in Deutschland und am UPV/EHU San Sebastian in Spanien konnte die Existenz der Ketten mit mehreren raffinierten und komplementären Methoden nachgewiesen werden. Sie verwendeten temperaturabhängige Nah- und Fernfeld-Ramanspektroskopie (für die Untersuchung elektronischer und schwingungstechnischer Eigenschaften), hochauflösende Transmissionselektronenmikroskopie (für die direkte Beobachtung von Carbin innerhalb der Kohlenstoffnanoröhren) sowie Röntgenstreuung (für den Nachweis makroskopischen Kettenwachstums).
„Der direkte experimentelle Nachweis linearer Kohlenstoffketten mit einer bisher als unmöglich zu realisierenden geglaubten Länge ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum endgültigen Verständnis von Carbin, dem ‚Heiligen Gral‘ der Allotrope des Kohlenstoffs“, erklärt Lei Shi, Erstautor der Publikation, deren Ergebnisse in der neuen Ausgabe von „Nature Materials“ erscheinen.
Mögliche Anwendungen
Carbin ist innerhalb der doppelwandigen Kohlenstoffnanoröhren außerordentlich stabil, was essentiell für mögliche Anwendungen ist. Theoretische Modelle sagen voraus, dass einerseits die mechanischen Eigenschaften von Carbin alle bisher bekannten Materialien übertreffen werden, sogar Graphen und Diamant. Andererseits liegt auch in den elektronischen Eigenschaften erhebliches Anwendungspotential, unter anderem für Quantenspintransport oder als magnetische Halbleiter.
Diese Arbeit wurde unterstützt vom FWF und der EU.