Rapanui, auch bekannt als Osterinsel, ist einer der isoliertesten bewohnten Orte der Welt. Die Insel liegt im Pazifik, mehr als 1.900 km östlich der nächsten bewohnten polynesischen Insel und 3.700 km westlich von Südamerika. Obwohl die Insel, ihre Bewohner*innen und ihre reiche Kultur ausgiebig erforscht wurden, sind zwei Schlüsselelemente der Geschichte der Rapanui bis heute sehr umstritten – ein internationales Team konnte nun entscheidende Aufklärungsarbeit in diesen beiden Diskussionen leisten. Das gelang, indem sie die Genome von 15 Rapanui-Individuen untersuchten, die zwischen 1670 und 1950 lebten. Die Überreste dieser 15 Personen werden derzeit im Musée de l’Homme in Paris aufbewahrt.

Eine der beiden Forschungsfragen dabei ist, ob die Rapanui jemals Amerika erreicht haben. Frühere Studien, die auf geringen Mengen alter DNA von Polynesier*innen beruhten, hatten jedoch die Hypothese verworfen, dass Transpazifikfahrten tatsächlich stattfanden. Diese Ergebnisse stellten also in Frage, ob die Polynesier*innen je Amerika erreicht hatten, und legen nahe, dass der auf heutigen genetischen Daten beruhende Kontakt durch die europäischen Kolonialaktivitäten nach 1722 zustande kam.

Die Wissenschafter*innen konnten nun den untersuchten Genpool entscheidend vergrößern und stellten fest, dass etwa zehn Prozent des Rapanui-Genpools von Native Americans stammt. Vor allem aber konnten sie feststellen, dass beide Populationen bereits vor der Ankunft der Europäer*innen auf der Insel und in Amerika aufeinandertrafen. Möglich wurde das durch die Arbeit des renommierten Archäologiewissenschafters Tom Higham von der Universität Wien. Er hat ein Modell entwickelt, um das Datum dieser Begegnung zu bestimmen. „Anhand der genetischen Daten und der Radiokarbondaten derselben Knochen konnten wir berechnen, dass der Kontakt zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert und damit vor der Ankunft der Europäer*innen stattgefunden haben muss“, sagt Higham. „Unsere Studie kann uns zwar nicht sagen, wo dieser Kontakt stattfand, aber das könnte bedeuten, dass die Vorfahren der Rapanui Amerika vor Christoph Kolumbus erreichten“, sagt Anna-Sapfo Malaspinas von der Fakultät für Biologie und Medizin der Universität Lausanne, Letztautorin der Studie.

„Viele dachten auch, dass die heutigen Rapanui teils von Native Americans abstammen, weil die Europäer*innen Native Americans auf die Insel brachten. Die Daten deuten jedoch stark darauf hin, dass sich Rapanui und amerikanische Ureinwohner*innen bereits Jahrhunderte vor der Ankunft der Europäer*innen auf Rapanui oder in Amerika begegneten und vermischten. Wir glauben, dass dies bedeutet, dass die Rapanui zu noch gewaltigeren Reisen über den Pazifik fähig waren als bisher angenommen“, fasst Víctor Moreno-Mayar von der Universität Kopenhagen, einer der leitenden Autor*innen, zusammen.

Keine Hinweise auf bisher vermuteten Bevölkerungskollaps

Bei der zweiten überprüften Theorie geht es um einen vermuteten Bevölkerungskollaps durch „Ökozid“ in den 1600er Jahren. Laut der „Ökozid“-Theorie führte eine Bevölkerung von mehr als 15.000 Rapanui ökologische Veränderungen herbei, die zu einer Periode der Ressourcenknappheit, Hungersnöten, Kriegen und sogar Kannibalismus führten, und schließlich in einem katastrophalen Bevölkerungskollaps gipfelten. Um diese These zu überprüfen, untersuchten die Forscher*innen die alten Genome der Rapanui-Individuen in der Erwartung, eine genetische Signatur eines Populationskollaps zu finden, etwa einen plötzlichen Rückgang der genetischen Vielfalt. Doch überraschenderweise enthielten die Daten keine Hinweise auf einen Kollaps der Population im 17. Jahrhundert. „Unsere genetische Analyse zeigt, dass die Population vom 13. Jahrhundert bis zum Kontakt mit den Europäer*innen im 18. Jahrhundert stabil wächst. Diese Stabilität ist von entscheidender Bedeutung, denn sie widerspricht direkt der Vorstellung eines dramatischen Bevölkerungskollaps vor dem Kontakt“, sagt Bárbara Sousa da Mota von der Universität Lausanne und Erstautorin der Studie.

Insgesamt tragen die Ergebnisse der neuen Studie zur Klärung langjähriger Debatten bei, die zu jahrelangen Spekulationen über die Geschichte der Rapanui geführt haben. Mit ihrer genetischen Analyse haben die Wissenschafter*innen nicht nur die Theorie des Zusammenbruchs widerlegt, sondern auch die Widerstandsfähigkeit der Rapanui-Bevölkerung unterstrichen, die über mehrere Jahrhunderte hinweg bis zu den kolonialen Unterbrechungen, die der Kontakt mit den Europäer*innen nach 1722 mit sich brachte, Umweltprobleme bewältigte.

„Ich persönlich glaube, dass die Idee des Ökozids als Teil eines kolonialen Narrativs entstanden ist. Diese Vorstellung besagt, dass dieses angeblich primitive Volk nicht in der Lage war, mit seiner Kultur oder seinen Ressourcen umzugehen, und dass dies fast zu seinem Untergang geführt hätte. Aber die genetischen Daten zeigen das Gegenteil. Es gibt keine Beweise für einen Bevölkerungszusammenbruch vor der Ankunft der Europäer*innen auf der Insel, wir können diese Vorstellung jetzt ad acta legen“, sagt Moreno-Mayar.

Rücküberführung auf Rapanui

Wichtig war, dass die Wissenschafter*innen persönliche Gespräche mit Mitgliedern der Rapanui-Gemeinschaft und der „Comisión Asesora de Monumentos Nacionales“ in Rapa Nui (CAMN) führten. Diese Gespräche ermöglichten es, die Forschung zu koordinieren und eine Reihe von Forschungsfragen zu definieren, die für die Wissenschafter*innen und die Gemeinschaft gleichermaßen von großem Interesse waren. Durch die aktuelle Forschung konnte schließlich bestätigt werden, dass die 15 untersuchten Individuen tatsächlich Rapanui waren, weshalb sie auch dorthin rücküberführt werden sollen. „Wir haben gesehen, dass Museumsarchive Fehler und falsche Beschriftungen enthalten. Jetzt, da wir festgestellt haben, dass diese 15 Personen tatsächlich Rapanui waren, wissen wir, dass sie wieder auf die Insel gehören“, sagt Moana Gorman Edmunds, Archäologin auf Rapanui und Mitautorin der Studie.

Originalpublikation: 

J. Víctor Moreno-Mayar, Olivier Delaneau, Anna-Sapfo Malaspinas, Tom Higham et al.: Ancient Rapanui genomes reveal resilience and pre-European contact with the Americas. 2024, Nature.
DOI: 10.1038/s41586-024-07881-4