Wie wir uns selbst wahrnehmen ist sehr wichtig für unser Verhalten. Zum Beispiel verdienen Menschen, die ihre Fähigkeiten überschätzen, mehr, investieren ihr Geld anders und übernehmen häufiger Führungspositionen. Sie verhalten sich aber auch riskanter, haben häufiger Unfälle und achten weniger auf ihre Gesundheit – zum Beispiel trinken sie öfter Alkohol, essen ungesünder und schlafen zu wenig.
Sonja Spitzer vom Institut für Demographie der Universität Wien hat gemeinsam mit Mujaheed Shaikh von der Hertie School aufgezeigt, dass sich die Einschätzung der eigenen Gesundheit auch auf die Anzahl der Arzt/Ärztinnenbesuche auswirkt. So haben ältere Europäer*innen, die ihre Gesundheit überschätzen, 17 Prozent weniger Allgemeinmediziner*innenbesuche pro Jahr als jene, die ihre Gesundheit richtig einschätzen. Das ist vor allem dann problematisch, wenn diese Menschen nicht zu Vorsorgeuntersuchungen gehen, oder ernsthafte Krankheiten zu spät erkannt werden. Ähnliches gilt für Besuche beim Zahnarzt / bei der Zahnärztin.
Auf die Anzahl und Dauer der Krankenhausaufenthalte wirkt sich die Wahrnehmung der eigenen Gesundheit hingegen nicht aus; vermutlich, weil diese stärker reguliert sind und, zum Beispiel, oft eine ärztliche Überweisung notwendig ist. Insgesamt schätzt die Mehrheit der Umfrageteilnehmer*innen ihre Gesundheit richtig ein (79%), 11% überschätzen und 10% unterschätzen sich.
Gesünder als gedacht
Menschen, die sich für kränker halten, als sie eigentlich sind, also ihre Gesundheit unterschätzen, haben hingegen um 21 Prozent mehr Besuche beim Arzt / bei der Ärztin als jene, die ihre Gesundheit richtig einschätzen. Auf der einen Seite besteht hier der Nachteil, dass diese zusätzlichen Besuche vermeidbar wären und unnötige Kosten verursachen – das ist vor allem in Anbetracht der steigenden Bevölkerungsalterung und den damit einhergehenden hohen öffentlichen Gesundheitsausgaben relevant. Auf der anderen Seite sind Menschen, die ihre Gesundheit unterschätzen und darum sehr darauf achten, langfristig möglicherweise besonders fit, was sich wiederum positiv auf die Gesellschaft auswirken könnte. Außerdem ist es für Außenstehende schwierig abzuschätzen, welche Besuche gerechtfertigt sind, und welche nicht.
Für ihre Studie haben die Forscher*innen Daten von über 80.000 Europäer*innen über 50 Jahren mit statistischen Methoden analysiert. Die Daten wurden im Rahmen der SHARE-Studie (Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe) zwischen 2006 und 2013 erhoben. Zuerst wurden die Teilnehmer*innen gefragt, wie sie ihre Gesundheit einschätzen, zum Beispiel, ob sie Probleme hätten, nach längerem Sitzen von einem Sessel aufzustehen. Später mussten die Teilnehmer*innen dann tatsächlich von einem Sessel aufstehen – so kann bestimmt werden, ob jemand seine/ihre Fähigkeiten überschätzt, unterschätzt oder richtig einschätzt. Die Forscher*innen berücksichtigten außerdem Fehleinschätzungen im Erinnerungsvermögen und in der Mobilität.
Wahrnehmung abhängig von Alter, Herkunft und Bildung
Mit ihrer neuen Studie bauten die Forscher*innen auf einer vormaligen Untersuchung auf, die zeigte, dass sich die Wahrnehmung der Gesundheit stark nach Alter, Herkunft und Bildung unterscheidet. Vor allem Ältere überschätzen ihre Gesundheit häufig. Die Forscher*innen konnten auch regionale Unterschiede finden: So neigen Menschen in Südeuropa laut der Analyse eher dazu, ihre Gesundheit zu überschätzen, während Menschen in Mittel- und Osteuropa ihre Gesundheit oft unterschätzen.
Grundsätzlich gilt: Je höher der Bildungsgrad ist, umso eher schätzen Menschen ihre Gesundheit richtig ein. Der daraus abgeleitete Appell der Wissenschafter*innen: Stärker auf Gesundheitsbildung und Gesundheitskompetenz setzen. Wie gesund wir uns fühlen kann somit langfristig beeinflussen, wie gesund wir tatsächlich sind.
Originalpublikation:
Sonja Spitzer & Mujaheed Shaikh (2022): Health misperception and healthcare utilisation among older Europeans, The Journal of the Economics of Ageing, Volume 22, 100383