Vor ungefähr 6.000 Jahren, zu Beginn der Archaik, ließen sich die ersten Menschen auf den Inseln der Karibik nieder. Sie besiedelten die Regionen, die wir heute als Bahamas, Kuba, die Dominikanische Republik, Haiti, Puerto Rico, Guadeloupe, St. Lucia, Curaçao und Venezuela kennen. Drei- bis viertausend Jahre später wichen die Werkzeuge aus Stein den Tontöpfereien und das Keramikzeitalter brach an. Weitere zwei Jahrtausende später segelten die Europäer quer über den Atlantik und nahmen erstmals Kontakt mit der Bevölkerung der Inseln auf.
Verschiedenste Disziplinen stellen sich dazu unterschiedliche Fragen: Woher kamen die Völker, die Steinwerkzeuge nutzten und jene, die mit Ton arbeiteten? Waren sie miteinander verwandt? Wie viele Menschen lebten in der Karibik, als die Spanier dort ankamen? Inwieweit, wenn überhaupt, stammt die heutige karibische Bevölkerung von diesen indigenen Gruppen ab?
Die nun veröffentlichte, bisher umfassendste Genom-Studie zu uralter menschlicher DNA in Amerika brachte darauf neue Antworten. Unter Einbeziehung von indigenen Einwohner*innen der Karibik hat ein internationales Team an Genforscher*innen, Archäolog*innen, Anthropolog*innen, Physiker*innen und Museumskurator*innen, sowie Ko-Autor*innen in der Karibik 174 neue und 89 bereits zuvor sequenzierte Genome analysiert.
„Unser Ziel war es, nicht nur die Herkunft der Menschen zu untersuchen, die vor dem Erstkontakt mit Europäern in der Karibik lebten, sondern auch deren regionale Interaktionsnetzwerke genau zu beleuchten“, erklärt Daniel Fernandes, Ko-Erstautor und Postdoc am Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien.
Stein und Ton und gute Netzwerke
Das Forschungsteam entdeckte, dass die karibische Bevölkerung zur Zeit der Archaik von einer einzigen Bevölkerungsgruppe in Mittel- oder Südamerika abstammte. Im Gegensatz zu früheren Forschungsergebnissen kam das Team zu dem Schluss, dass die Völker zur Zeit der Archaik vermutlich nicht von Völkern aus Nordamerika abstammten.
Die Völker im Keramikzeitalter hatten ein anderes genetisches Profil, das am ehesten dem von Arawak-sprechenden Völkern im Nordosten Südamerikas entsprach. Diese Erkenntnis deckt sich auch mit archäologischen und linguistischen Erkenntnissen.
Die Völker des Keramikzeitalters dürften vor mindestens 1.700 Jahren von Südamerika kommend über die Inseln der Kleinen Antillen in die Karibik migriert sein und die ansässige Bevölkerung, die Steinwerkzeuge verwendete, nahezu gänzlich ersetzt haben, rekonstruierten die Forscher*innen. Nur ein Bruchteil der archaischen Bevölkerungsgruppen verblieb im Westen Kubas ungefähr bis zur Ankunft der Europäer.
Die genetischen sowie die archäologischen Erkenntnisse des Forschungsteams legen nahe, dass die Abstammung der töpfernden Völker in der Karibik dann über Jahrhunderte hinweg weitgehend unverändert blieb. Innovation entstand vielmehr durch die Vernetzung der Völker untereinander, die Ideen von Insel zu Insel weitertrugen, und weniger durch den Einfluss von neuen Gruppen vom Festland.
„Unsere Ergebnisse unterstützen die Theorie, dass die Völker des Keramikzeitalters gut miteinander vernetzt waren, was als Katalysator für die Verbreitung neuer Keramikstile in der gesamten Region wirken hätte können,“ erklärt Ko-Autor Daniel Fernandes.
Bevölkerungsgröße voreuropäischer Zeit
Die große Anzahl an DNA-Proben ermöglichte es den Forscher*innen auch, die Größe der historischen karibischen Bevölkerung vor der Ankunft der Europäer zu schätzen. Zu deren Überraschung legen die Zahlen nahe, dass in den Jahrhunderten vor der Ankunft der Europäer insgesamt nur zwischen 10.000 und 50.000 Menschen in der Region Hispaniola (Haiti und Dominikanische Republik) und in Puerto Rico lebten. Diese Zahl ist wesentlich niedriger als in früheren Schätzungen und in historischen Berichten, die von mehreren hunderttausenden bis Millionen von Menschen ausgingen.
„Unsere Erkenntnisse stellen einen wichtigen Präzedenzfall für die Schätzung von Bevölkerungsgrößen anhand uralter DNA dar. Wir sehen, wie Genetik und Archäologie zur Beantwortung bestehender Forschungsfragen zusammenarbeiten können“, sagt Ron Pinhasi, Ko-Erstautor der Studie und assoziierter Professor am Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien.
Bleibender Einfluss
Zwischen vier und 14 Prozent des Erbguts der heutigen karibischen Bevölkerung gehen auf die DNA der untersuchten historischen Völker zurück, schätzen die Studienautor*innen. Diese Erkenntnisse bestätigen auch frühere Studien, die belegen, dass die heutige karibische Bevölkerung von drei Hauptgruppen abstammt (zu unterschiedlichen Anteilen auf den verschiedenen Inseln): indigene Völker vor dem Kontakt zu den Europäern, zugewanderte Europäer und Menschen aus Afrika, die aufgrund des Sklavenhandels in die Region kamen.
„Die uralte DNA hat uns nun Aufschluss darüber gegeben, wie seefahrende Gesellschaften der Urgeschichte neue Regionen im pazifischen und karibischen Raum erkundeten und kolonialisierten“, so Pinhasi.
Publikation in „Nature“:
A genetic history of the pre-contact Caribbean, D. Reich et al., Nature, 2020.
DOI: 10.1038/s41586-020-03053-2